Die Regisseurin Nathalie Jaggi spinnt die Fäden zwischen Kunst und Wissen. Seit vielen Jahren begleitet sie Schulen bei der Realisation von künstlerischen Projekten. Wir haben sie nach einer zweistündigen Probe mit 13- bis 14-jährigen Schüler/-innen an der Orientierungsstufe von Bude in Genf getroffen. «Sapiens» - so lautet der Titel der Produktion – versucht die heutige Gesellschaft zu verstehen und sich die Zukunft der Menschheit auf Grund der Weltgeschichte vorzustellen.

Hochgesteckte Ziele mit Jugendlichen? Bestimmt. Aber der Wille und die Begeisterung des Projektleitungsteams, vor allem des Lehrers Fadi Hamdan und seiner Kollegen, sowie der Schauspielerin Verena Lopes und unserer Gesprächspartnerin, zähmen sogar widerspenstige Schüler/-innen.
Ist es nicht schwierig Jugendlich für ein Schauspiel wie «Sapiens» zu gewinnen? Tatsächlich kann es schwierig sein eine Gruppe für ein nicht selbst gewähltes Projekt zu motivieren, was hier der Fall ist. Die Schule ist aber auch kein Wunschkonzert. Jedes Kind muss sie besuchen. Ich fände es deshalb schade, innerhalb dieses obligatorischen Rahmens, künstlerischen Aktivitäten wie Theater oder Bewegung nicht den nötigen Platz einzuräumen. Diese Aktivitäten verbinden sich mit Körper, Sprache, Gefühl, Poesie und Fantasie. Die symbolische Dimension und Kreativität tragen meiner Meinung nach in der Bildung grundlegend zur Entwicklung der Persönlichkeit bei. Oft wird davon ausgegangen, dass solche Dinge nichts für Schüler/-innen sind, da sie ihnen missfallen könnten. Im Gegensatz dazu finde ich, müssen wir mit allen Mitteln versuchen, die Fantasie und Kreativität bei den Schüler/-innen zu wecken, auch wenn es ein schwieriges Unterfangen ist. Dazu braucht es manchmal Mut, wenn aber genügend Zeit zur Verfügung steht, sind die Chancen gut, die Herzen der einen oder anderen zu berühren.
« Die symbolische Dimension und Kreativität tragen meiner Meinung nach in der Bildung grundlegend zur Entwicklung der Persönlichkeit bei »
Wie erreichen Sie das konkret? Zu Beginn besteht das Ziel darin, dass die Schüler/-innen das Vertrauen in ihren Körper entwickeln, denn alles läuft über den Körper. Man muss sie zum Mitmachen gewinnen, damit sie präsent sind, sich betroffen fühlen, auch wenn für sie das Thema weit entfernt scheint. Diese Jugendlichen, die zum Teil von schlechten Erfahrungen und schulischen Misserfolgen geprägt sind, aus der Konformität herauszuholen, ist eine echte Herausforderung. Und je unsicherer sie sich fühlen, umso weniger sind sie bereit, an ihrer schulischen Routine etwas zu ändern. Angst vor dem Unbekannten, Ablehnung sind aber oft integrale Teile von kreativen Prozessen. Es ist also nötig den Zugang zu den Jugendlichen zu finden, sei es durch Sympathie, Spiel, aber auch indem man in der Konfrontation darauf besteht und ihre Bereitschaft einfordert.
Die Entstehung der Welt, der Big Bang, Australopithecus. Inwiefern sprechen diese Themen die Jugendlichen an? Indem wir sie entlang dieser Zeitlinie führen, ergeben sich Orientierungspunkte. Aber es stimmt, dass der erste Akt, die Vergangenheit, mit dem wir uns beschäftigen, sicher der komplizierteste ist. Die Gegenwart und die Zukunft werden leichter anzugehen sein. Da müssen sie sich selber einbringen, ihre Interessen offenlegen und an den eigenen Vorstellungen über ihre Zukunft arbeiten. Das Schauspiel entwickelt sich Schritt für Schritt um sie herum, mit dem was sie gerne machen und können. Eine Schülerin wird singen, ein Schüler macht Slam poetry und bestimmt werden wir ein Rätsel einbauen, was sie sehr gerne machen. Sicher werden wir eine Szene mit Handy zeigen, welches eine wirkliche Erweiterung ihrer Möglichkeiten darstellt, und eine über den künftigen Menschen. Auch wenn die Themen komplex sind, ist es unser Ziel, dass die Schüler/-innen sich diese nach und nach aneignen und durch das Schauspiel und ihr persönliches Engagement zu Wissensvermittlern werden. Einige haben bestimmt noch Schwierigkeiten, sich auf der Bühne vorzustellen, aber wir helfen ihnen dabei, diese zu überwinden und Vertrauen in sich aufzubauen. Genau um das geht es beim Projekt «Sapiens».
« Die Fantasie ist wie ein "Muskel", den man trainieren kann. Je mehr kreative Erfahrungen die Schüler/-innen während ihrer Schulzeit sammeln, desto grösser wird ihre Kreativität.»
Gelingt die Verbindung zwischen Wissen und Kreativität nur im Rahmen von Projekten wie «Sapiens»? Ich bin davon überzeugt, dass es möglich ist, sämtliche Fächer mit künstlerischen Elementen zu unterrichten. Viel zu oft sitzt der Körper verlassen auf dem Stuhl und der Geist ist anderswo. Kreativ sein heisst auch anders zu lernen: mit Musik, in Bewegung, durch die Verkörperung und Symbolisierung von Wissen. Verschiedene Lehrpersonen haben sich nach Projekten mit uns mehr Freiheit gegeben und andere innovative Zugänge mit ihren Schüler/-innen ausprobiert. Ohne Kreativität sind wir nur passive Konsument/-innen. Deshalb könnte Kreativität in der heutigen Welt, die uns sonst beschränkt, eine willkommene Alternative sein und uns voranbringen.

Hat Krativität in der Schule überhaupt Platz? In der Schule kann und muss man kreativ arbeiten. Sie ist der einzige Ort, wo dies auf demokratische Weise auch mit Kindern möglich ist, denen dieser Zugang ansonsten verwehrt bleibt. Mir ist es wichtig, dass Kinder bereits ab der 1. Klasse mit der symbolischen Ebene vertraut gemacht werden. Die Fantasie ist wie ein "Muskel", den man trainieren kann. Je mehr kreative Erfahrungen die Schüler/-innen während ihrer Schulzeit sammeln, desto grösser wird ihre Kreativität. Es ist allerdings auch so, dass Selektion und Wettbewerb in der Schule im Widerspruch zur Entwicklung des kreativen Potenzials stehen. Die Schule neigt dazu, Fehler zu ahnden, Leistung zu belohnen, während Kreativität Versuch und Irrtum erfordert und Engagement statt Ergebnis bewertet. Ich bin überzeugt, dass die Schule in Kunst und Kreativität investieren muss. Meine Arbeit in der Schule erfahre ich zwar immer als Herausforderung, sie ist aber auch "aussergewöhnlich", weil sie die etablierte Ordnung stört. Kreieren ist eine Möglichkeit, dem normalen Gang der Dinge zu widerstehen. Ich möchte dabei ausserhalb der Norm eine kreative Dynamik vermitteln, um die Beziehungen zwischen den Teilnehmenden zu stärken und sicherzustellen, dass Wissen und Engagement für Schüler/-innen attraktiv werden.
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