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Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) | Das Portal
Wenn Kinder lernen, erwerben sie nicht nur Wissen, sondern auch Dinge wie Geschicklichkeit, Empathie oder Mut. Viele dieser Dinge lernen sie ausserhalb der Schule, und so ist es naheliegend, Bildung als eine Aufgabe zu begreifen, die sich viele Akteure teilen. In Bildungslandschaften vernetzen sich diese Akteure. Eine Tagung von éducation21 zeigte: Solche Bildungslandschaften tun not, vor allem in der frühen Kindheit.
Noch gibt es erst in 37 Gemeinden der Schweiz eine Bildungslandschaft. Aber das Interesse an diesem Modell ist gross, wie die erste nationale Fachtagung Bildungslandschaften21 zu Bildung – heute, morgen, übermorgen! – Starke Bildungsnetzwerke für eine nachhaltige Zukunft von Bildungslandschaften21 und der PHBern zeigte: 350 Personen hatten sich angemeldet, davon 60 aus der Westschweiz. «Ich habe schon viel Gutes darüber gehört», «Wir möchten selber eine schaffen», «Ich möchte eine konkrete Vorstellung erhalten, wie die Zusammenarbeit in einer Bildungslandschaft aussehen kann» – das waren drei von unzähligen Statements der Teilnehmenden. Die Direktorin von éducation21, Klára Sokol, freute sich über dieses Interesse. Ihre Organisation bietet mit der Anlaufstelle Bildungslandschaften21 viele Dienstleistungen zum Thema an – darunter neuerdings auch kostenlose Abklärungsgespräche (Kastentext).
Kinder lernen nicht nur in der Schule; gemäss Studien erwerben wir 70 bis 90 Prozent unserer Kompetenzen in informellen oder non-formalen Kontexten und nur 10 bis 30 Prozent formal. Auch wenn solche Angaben methodische Fragen aufwerfen: Unzweifelhaft ist, dass Schulen keinen Exklusivanspruch als Bildungsort erheben können. Familie und Krabbelgruppe, Jugendtreff und Sportverein, Kirche und Bibliothek, das alles sind auch wichtige Lernorte. Das sehen die Lehrerinnen und Lehrer genauso, wie Dagmar Rösler, Zentralpräsidentin des LCH, in ihrem Grusswort zur Tagung verdeutlichte: «Die Schule ist angewiesen auf Partner, um die zahlreichen Bildungserwartungen zu erfüllen. Bildungslandschaften bilden optimale Netzwerke, um insbesondere das Ziel der Chancengerechtigkeit zu erreichen.»
Im ersten der beiden Hauptreferate der Tagung vertiefte Prof. Dr. Martin Hafen (Hochschule Luzern) diesen Gedanken. Er richtete den Blick vor allem auf die ersten Lebensjahre, in denen die Grundlagen für eine gelingende Bildungsbiografie gelegt werden. Dabei stellte er einem auf kognitive Kompetenzen verengten Bildungsverständnis ein breites Konzept der «Lebenskompetenzen» entgegen – ein bunter Strauss von überfachlichen Fähigkeiten wie Sozialkompetenz, Selbstwirksamkeitserwartung, Selbstregulationsfähigkeit, Risikokompetenz, Kreativität, Gesundheitskompetenz, motorische Kompetenz, Sprachfähigkeit und kognitive Intelligenz. Welche Faktoren kleine Kinder beim Erwerb dieser Kompetenzen unterstützen, ist zwar trivial und wissenschaftlich längst belegt – und doch werden sie allzu oft missachtet. Es sind dies zuverlässige Beziehungen und emotionale Nähe, eine anregungsreiche Umgebung und den Schutz ihrer ureigenen Kreativität. Hafen: «Kinder lernen alles im freien Spiel. Ihr Spiel ist intrinsisch motiviert und braucht keine schulische Frühförderung.» Hafen warnte eindringlich davor, die frühe Kindheit mit Lernprogrammen zu verschulen.
Eine solche Programmatik passt zu einem Verständnis von Bildung, wie es in den Bildungslandschaften lebendig ist – ein Modell, das Martin Hafen ausdrücklich lobte. Dem gegenüber kommentierte er das aktuelle Schulsystem kritisch – und bediente sich zur Veranschaulichung des altgriechischen Wortes scholé, das Musse bedeutet oder die Freiheit, das zu tun, was Herz und Geist erfreut. Die frühe Selektion, Hausaufgaben, Talentignoranz oder die einseitige Betonung kognitiver Fächer (Mathematik, Deutsch, Französisch) stünden einer Bildung im Weg, die den Kindern ermögliche, ihre Fähigkeiten ganz zu entfalten. Martin Hafen wünscht sich eine Schule, die mehr selbstbestimmte Lerninhalte erschliesst, mehr Zeit lässt für Erfahrungslernen und soziale Prozesse, viel mehr körperliche Bewegung zulässt, mehr auf Stärken statt Schwächen achtet und weniger Leistungsdruck ausübt.
Im zweiten Hauptreferat suchte Prof. Dr. Francine Pellaud (Pädagogische Hochschule Freiburg) nach Antworten auf die Frage, welche Kompetenzen Kinder erwerben müssen, um einen Beitrag zur Nachhaltigen Entwicklung zu leisten. Wie dringend das ist, unterstrich die Referentin mit Hinweisen auf die ökologischen Bedrohungen, welche mit enormen sozialen und ökonomischen Kosten verbunden wären. Sie abzuwenden, so hofft Pellaud, gelinge den Kindern, die jetzt zur Schule gehen. Das setze eine Bildung voraus, in der die Förderung von kognitiven Fähigkeiten eingebunden ist in die Entwicklung sozio-emotionaler Kompetenzen. Pellaud unterstrich zudem die Notwendigkeit verstärkter Engagements aller Akteure zur Förderung der frühen Kindheit. Wie gross diese Notwendigkeit ist, hatte in ihrem Grusswort auch Ständerätin Élisabeth Baume-Schneider (Co-Präsidentin Alliance enfance) deutlich gemacht; sie erinnerte an einen Bericht von Unicef zur Familienfreundlichkeit von 31 europäischen Ländern: Die Schweiz rangiert hier auf dem letzten Platz. Nicht anders betonte Thomas Minder, Präsident Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Schweiz (VSLCH), die Bedeutung der Vernetzung von Organisationen im Frühbereich: «Damit Kinder stabil verankert und gesund aufwachsen, ist Chancengerechtigkeit zentral. Bildungslandschaften ermöglichen allen sozialen Schichten die Teilnahme an bildungsrelevanten Aktivitäten.»
Fünfzehn Workshops setzten Impulse für bestehende Bildungslandschaften sowie einige zeigten auf, wie Bildungslandschaften in der Praxis funktionieren. Eine solche Bildungslandschaft ist «futurina» in Bern-West, einem Quartier, das mit erhöhten sozialen Herausforderungen konfrontiert ist. So weisen drei- bis viermal mehr Kinder Entwicklungsverzögerungen auf. Stephanie Schär ist Quartierarbeiterin und leitet «futurina», die vor sechs Jahren entstanden ist. Ihre Ziele waren damals:
Die Angebote, die seither entstanden sind, lassen sich sehen. So erwies sich die Einrichtung eines Elterncafés als Riesenerfolg: Hier treffen sich Interessierte einmal pro Woche im Schulhaus, eingeladen von jeweils zwei Eltern. Bereits konnte ein zweiter Standort eingerichtet werden. Im Rahmen des Projekts «Quartier entdecken» erhalten Eltern und Kinder Gelegenheit, die schönsten Orte in Bümpliz und Bethlehem spielerisch zu entdecken. «Wir hatten festgestellt, dass viele Eltern nur das Freibad und das Einkaufzentrum kennen», so Schär. Zu Corona-Zeiten war das Angebot eine besonders willkommene Gelegenheit, aus den eigenen vier Wänden zu kommen. Kostenlose Sprachkurse mit Freiwilligen, Sprachtandems, Schulinformationen für Fremdsprachige, ein Sportkleidertausch, ein Männerstammtisch, eine Website mit einem Veranstaltungskalender – das sind weitere Angebote. Stephanie Schär nannte diverse entscheidende Erfolgsfaktoren: Mit der politischen Unterstützung wurde eine Pilotphase finanziert sowie gelang anschliessend die Überführung in einen langfristigen Regelbetrieb ab 2019. Der Aufbau braucht entsprechend Zeit und die Steuergruppe, Projektleitung sowie Arbeitsgruppen sind Teil der heutigen Struktur. Eine Expertin begleitete diesen Prozess. Eine wichtige Partnerin für die Quartierarbeiterin ist auch die Schule. Die Zusammenarbeit mit dieser sowie mit anderen Akteuren wird in regelmässigen Netzwerktreffen sichergestellt. Die Eltern werden bewusst partizipativ durch die interkulturellen Vermittlungen eingebunden.
Eines der Ziele von Bildungslandschaften ist die Förderung von Kompetenzen, mit denen die Kinder eine zukunftsfähige Gesellschaft mitgestalten können. Im Rahmen eines zweiten Workshops von éducation21 wurden drei Spiele vorgestellt, die eine Auseinandersetzung mit eigenen Werten und systemischen Zusammenhängen ermöglichen.
Zur kompletten Dokumentation der Fachtagung
www.education21.ch/de/bildungslandschaften21
www.futurina.ch
éducation21 fördert Bildungslandschaftenéducation21 ist das nationale Kompetenz- und Dienstleistungszentrum für Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) in der Schweiz. Es unterstützt im Auftrag der Kantone, des Bundes und der Zivilgesellschaft die Umsetzung und Verankerung von BNE auf Ebene obligatorische Schule und der Sekundarstufe II. Seit 2019 fördert éducation21 in Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Gesundheitsstiftung RADIX als Anlaufstelle Bildungslandschaften. Sie richtet sich an alle Bildungsakteure und bietet ihnen eine breite Palette an Dienstleistungen an. Neben einer Auskunftsstelle und Angeboten für den Fach- und Erfahrungsaustausch sind insbesondere Weiterbildungsangebote für Koordinatoren und Koordinatorinnen, Praxisinstrumente und Hilfsmittel sowie Finanzhilfen für Bildungslandschaften zu erwähnen. Dank eines Fonds für Schulen und Gemeinden kann eine Prozessbegleitung vor Ort finanziert oder ein kostenloses Abklärungsgespräch beansprucht werden. Davon profitieren sowohl am Aufbau von Bildungslandschaften Interessierte, als auch die bereits zahlreich entstandenen Bildungslandschaften. |