Pedologie (Bodenkunde) und BNE

Text: Isabelle Bosset

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Wenn der Boden die Pädagogik inspiriert

Wissen über den Boden in den BNE-Unterricht einbeziehen ist nicht nur wichtig, sondern auch hochaktuell. Aber die Pedologie kann für die Vermittlung von BNE auch eine überraschende Inspiration sein. Diese auf den ersten Blick eher seltsame Verbindung zwischen Pedologie und Pädagogik wurde von Dilafruz Williams und Jonathan Brown entwickelt. Die beiden Forschenden schlagen fünf Prinzipien für die BNE vor, die auf der Bodenkunde beruhen.

Der Boden, eine der wichtigsten Ressourcen unseres Planeten (Hartemink, 2016), ist heute «beschränkt verfügbar, durch menschliches Handeln bedroht und in vielen Regionen der Welt degradiert» (S. 115). Deshalb behandelt die Bodenkunde – oder eben die Pedologie – unterdessen auch Themen wie Verlust der Biodiversität oder Klimawandel und nimmt einen wichtigen Platz in Fragen der Nachhaltigkeit ein. Aber die Pedologie kann auch die Pädagogik und vor allem die BNE inspirieren. Und genau darum geht es hier.

Verbindungen zwischen Pedologie und Pädagogik?

Für Dilafruz Williams und Jonathan Brown ist die Umsetzung der BNE mit diversen Problemen konfrontiert: (1) Vereinheitlichung von Lehrplänen und Lernmethoden; (2) Fokussierung auf die kognitive Dimension; (3) Vermittlung von «Silo-Wissen»; (4) Vorstellung eines autonomen, souveränen und von seiner Gemeinschaft losgelösten Individuums und (5) Höherbewertung von abstraktem Wissen. Vor diesem Hintergrund schlagen sie vor, den «lebendigen Boden» als ökologischen Ansatzpunkt zur Vermittlung der BNE zu nutzen.

Wie die Pedologie den BNE-Unterricht inspirieren kann: Fünf Grundsätze
1. Die biokulturelle Diversität wertschätzen

Der lebendige Boden mit seiner Vielfalt von Pflanzen, Organismen und Ökosystemen ermöglicht eine Wertschätzung der Biodiversität und ist zugleich ein Spiegel des kulturellen und sprachlichen Erbes. Wenn indigene Völker in eine dominante Kultur assimiliert werden, gehen ihre bodenbezogenen Traditionen verloren. Und wenn Pflanzen, die nur indigene Menschen dank ihrer mündlichen Kultur kennen, ausgerottet werden, dann verarmt der Boden. Dieses Beispiel zeigt auch, welchen Machtverhältnissen der Boden und sein wirtschaftlicher Wert unterliegen. Der Boden kann somit als besonderer Ort betrachtet werden, an dem sich sowohl die Ökologie (Zusammensetzung des Bodens, natürlich vorkommende Pflanzen und Organismen usw.) als auch die Kultur (Umgang mit und Nutzung des Bodens, Sprache im Zusammenhang mit dem Boden usw.) manifestieren.

Bei diesem ersten Prinzip geht es darum, dass die Kinder ausgehend vom Boden ökologische, kulturelle oder gar wirtschaftliche Dimensionen entdecken und diese dann mittels Systemdenken, einem zentralen Element der BNE, miteinander vernetzen. In einem weiterführenden Schritt kann die natürlicherweise im Boden vorhandene Vielfalt die Kinder auch dazu anregen, die Verschiedenartigkeit ihrer Erfahrungen mit dem Boden zu thematisieren und so über ihre eigenen Unterschiede nachzudenken.

2. Mit allen Sinnen empfinden

Der Kontakt mit dem Boden bietet intensive sinnliche Erfahrungen. In der Regel stehen die Kinder dem lebendigen Boden nicht gleichgültig gegenüber. Sie sind fasziniert oder auch angewidert von seinem Geruch, seiner Beschaffenheit und den darin lebenden Organismen. Diese Erfahrungen, die alle Sinne mobilisieren, unterscheiden sich von jenen in Innenräumen, die tendenziell desinfiziert und keimfrei sind – in einer Pandemie erst recht.

Dieses zweite Prinzip will, ausgehend vom lebendigen Boden, sämtliche Sinne (neu) mobilisieren und schärfen. Dies steht im Gegensatz zur alleinigen Fokussierung auf die kognitive Dimension beim Lehren und Lernen. Durch das Variieren der Lernsituationen erhöht sich zudem die Wahrscheinlichkeit, dass alle Kinder (insbesondere jene, die sich im Klassenzimmer weniger wohlfühlen) einbezogen und beteiligt werden.

3. Ein Gefühl der Zugehörigkeit zu einem Ort entwickeln

Um zu verstehen, inwiefern ein Ort Teil unserer Identität und Kultur ist, oder gar ein Gefühl der Verantwortung dafür zu entwickeln, sollte er physisch besucht werden. Dies ermöglicht dreidimensionales Lernen, sinnliche Erfahrungen und die Erkenntnis, dass wir Teil eines Ganzen sind. Auch der emotionale Wert eines Ortes – unsere Verbundenheit und/oder Gleichgültigkeit ihm gegenüber – kann thematisiert werden.

Bei diesem dritten Prinzip geht es darum, ausgehend vom Boden das Bewusstsein für unsere Verbindung zu einem Ort zu fördern. Das vermittelte Wissen wird (neu) kontextualisiert. Zudem lassen sich so Fragestellungen behandeln, die je nach den wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Gegebenheiten des jeweiligen Ortes relevant sind – Dimensionen, die im Zentrum der BNE stehen.

4. Die gegenseitige Abhängigkeit aufzeigen

Der Boden ist ein Paradebeispiel für die gegenseitige Abhängigkeit der Elemente, aus denen er besteht: Pflanzen, Organismen, Tiere und Menschen, die sich vom Boden ernähren und auf ihn einwirken, sind durch essenzielle Beziehungen miteinander verbunden. Insofern ist der Boden eine Allegorie für ein System, in dem kein Organismus isoliert überleben kann. Dieses vierte Prinzip zielt darauf ab, die Idee der gegenseitigen Abhängigkeit als unabdingbare Voraussetzung für das Leben hervorzuheben. Im Rahmen einer BNE kann es das Systemdenken der Kinder sowie die Konzepte der Zusammenarbeit, Partnerschaft und Vernetzung fördern. Weiterführend kann aus einer demokratischen Perspektive betrachtet, die auch in Richtung einer BNE geht, die Pluralität der Ideen und Vorstellungen der Kin der positiv hervorgehoben werden.

5. Praktische Erfahrungen machen

Der Boden ermöglicht es den Jugendlichen und Kindern von heute, die von manchen als «Hors-sol»-Generation bezeichnet werden, wieder eine physische Verbindung zur Erde aufzunehmen, die ihnen oft fehlt. Er bietet ein Spielfeld für Erkundungen, da er eine pädagogische Situation verkörpert, die a priori nicht didaktisch aufbereitet ist. Der Boden öffnet die Tür für Überraschungen und Ungewissheit, was wiederum die Fragestellungen der Kinder anregt.

Dieses fünfte Prinzip will die Kinder dazu ermutigen, den Boden und die dadurch ausgelöste Verwunderung und das Staunen zu nutzen, um zu lernen, Situationen zu problematisieren – das heisst, erkennen zu lernen, weshalb eine bestimmte Situation Probleme verursacht, und Instrumente zu entwickeln, um sie zu verstehen. Das Hinterfragen fördert eine BNE, bei der es mehr darum geht, (sich) Fragen zu stellen, als vorgefertigte Antworten zu erhalten.

Pedologie und Pädagogik: eine unerwartete, überraschende, aber auch harmonische und vielversprechende Verbindung. Sie kombiniert Wissen über ein Thema mit Kompetenzen, die daraus entwickelt werden, und macht damit die Vorteile eines entschieden interdisziplinären, auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Denkens deutlich.

Literatur

Hartemink, A.E. (2016). The definition of Soil Since the Early 1800’s. In D.L. Sparks (Ed.), Advances in agronomy (S. 73–126). Elsevier.
Williams, D.R., & Brown, J.D. (2011). Living soil and sustainability education: Linking pedagogy and pedology. Journal of Sustainability Education, 2(3), 1–18.

 

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