Am Vormittag beobachte ich die Schüler/-innen im Wahlfach in der Aula bei der Probe. Danach spreche ich mit der Lehrerin über Schultheater und Kreativität.
Olimpia De Girolamo ist eine Theaterbegeisterte und davon überzeugt, dass sich dies auch bereichernd auf ihre Rolle als Lehrerin auswirkt: «Theaterarbeit ermöglicht mir, das Wissen anders anzugehen. Sie verändert auch meine Haltung im Klassenzimmer und gegenüber den Jugendlichen. Theater ist etwas so Schönes, dass ich nicht nur für mich behalten möchte». So entstand vor einigen Jahren die Idee, mit den Jugendlichen Theater zu spielen. Dabei die Schüler/-innen befassen sich dabei kritisch und konstruktiv mit Themen, die sie vertiefen möchten. Die Lehrerin sagt: «Wer eine Geschichte erarbeitet und aufführt, hinterfragt auch die Bezüge der gewählten Themen zum aktuellen Zeitgeschehen. Dies löst auch Gedanken zur Verantwortung des künstlerischen Schaffens aus.»
Das diesjährige Projekt ging von den Themen Ausgrenzung, Wahnsinn, Andersartigkeit aus. Mit der Lehrerin thematisierten die Schüler/-innen das Recht des Einzelnen, die eigene Persönlichkeit voll zu entfalten unter Rücksichtnahme auf die anderen und sich selbst. Nachdem sie im Vorjahr mit dem Schreiben experimentiert haben, konzentriert sich die Gruppe nun beim Stück «Die Glasmenagerie» von Tennessee Williams auf die Frage der Zerbrechlichkeit. Bevor sie das Stück überhaupt angingen, experimentierten die Jugendlichen einige Monate lang mit Sinneswahrnehmungen, d.h. sie arbeiteten an sich selbst, an ihrem Körperausdruck, aber auch an ihrer Haltung im Raum und gegenüber den anderen. Erst zuletzt setzten sie sich mit dem Text auseinander. «Denn mit Worten allein lassen sich die Gefühle nicht vermitteln, die ein Theaterstück beim Publikum auslösen soll», erklärt die Lehrerin. «Schöpferische Arbeit besteht darin, die Worte mit der eigenen Körpererfahrung lebendig werden zu lassen. Deshalb ist diese vorbereitende Arbeit so wichtig: Sie ermöglicht es, die Worte des Textes zu verwandeln.» Aus der Sicht von Olimpia De Girolamo liegt darin die Kreativität.
«Schöpferische Arbeit besteht darin, die Worte mit der eigenen Körpererfahrung lebendig werden zu lassen.»
Genau dies hatte ich während der Theaterprobe an diesem Vormittag miterlebt. Fedro, einer der Schüler, übte das Vortragen eines Monologs. Um seine Kreativität zu fördern und den Vortrag lebendiger zu gestalten, schlug ihm die Lehrerin vor, sich durch Laufen und Springen müde zu machen. Schliesslich führte der Junge einarmig Liegestützen aus und rezitierte zugleich mit lauter Stimme den Text. Den Schluss des Monologs trug er auf dem Rücken liegend unter starkem Keuchen vor! Nun wirkte es nicht mehr so, als ob er den Text bloss herunterleierte. «Fedro hat die Erfahrung gemacht, dass er sich von seinem ‘So bin ich halt’ lösen kann und die körperliche Überanstrengung hat seine Kreativität gefördert», erklärt die Lehrerin. «Er hat sich aus dem Konzept bringen lassen und keine Angst gehabt, sich selbst aufs Spiel zu setzen. Für einen Jugendlichen ist das nicht selbstverständlich. Diese Erfahrung kann für die Schüler/-innen im Alltag sehr nützlich sein: Sie ermöglicht ihnen, unbekannte Seiten ihrer Persönlichkeit zu entdecken und hilft ihnen, sich weiterzuentwickeln.»