Demokratie in der Krise braucht BNE-Kompetenzen
03.12.2025

Gespräch mit Prof. Dr. Isabelle Stadelmann-Steffen, Universität Bern

Unsere Demokratie steht unter Druck – Polarisierung, Desinformation und weltweite Krisen fordern sie heraus. Die Berner Politikwissenschaftlerin Isabelle Stadelmann-Steffen erklärt, welche Rolle Schulen bei der Stärkung demokratischer Kompetenzen spielen, warum die Fähigkeit zur Meinungsbildung früh gefördert werden muss und wie Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) die demokratische Widerstandsfähigkeit stärken kann.

Frau Stadelmann, Sie beschäftigen sich seit vielen Jahren mit politischer Partizipation und Demokratie in der Schweiz. Warum ist Demokratie kein Selbstläufer mehr?

Da gibt es definitiv nicht einen Grund, sondern verschiedene Entwicklungen, die ihres dazu beitragen. Drei Entwicklungen würde ich besonders hervorheben:  

Erstens stehen wir vor einer Reihe Herausforderungen, nicht nur in der Schweiz, sondern international: Themen wie Klimawandel, Digitalisierung oder Migration erfordern langfristige Lösungen und sind durch komplexe Zusammenhänge geprägt. Gleichzeitig fühlen sich viele Menschen von dieser Komplexität überfordert. Das führt zu Unsicherheit und der Suche nach einfachen Antworten. Hier springen populistische Parteien gerne ein, indem sie diese scheinbar einfachen Antworten bieten.

Zweitens lässt sich eine starke Polarisierung feststellen. In einigen wichtigen Fragen ist die Gesellschaft gespalten (z. B. Klimapolitik, Migration, EU-Beziehung), was die Suche nach Konsens, aber auch generell sachliche Diskussionen, erschwert. Dabei scheint es, dass politische Parteien, die diese Polarisierung nähren und weiter vorantreiben, elektoral belohnt werden, sprich: Wahlen gewinnen.

«Die Demokratie lebt davon, dass ihre fundamentalen Werte von der Gesellschaft getragen werden.»

Drittens sind der Medienwandel und ein Trend zur Desinformation vorangeschritten. Traditionelle Medien haben an Einfluss und Reichweite verloren, während soziale Medien die vorher angesprochene Polarisierung eher vorantreiben, indem sie Echokammern schaffen und extreme Meinungen verstärken. Diese Dynamiken wirken nicht unabhängig voneinander, sondern verstärken sich gerade gegenseitig.  

Und schliesslich leben aktuell gerade eine Reihe der mächtigsten Männer der Welt vor, dass Demokratie in Frage gestellt werden kann, ohne dass man dadurch politisch abgestraft wird. Dass dies funktioniert, hat vielleicht auch damit zu tun, dass wir uns in den letzten Jahrzehnten zu sicher gefühlt haben, dass die Demokratie «the only game in town» sei.

Demokratie basiert auf Mitwirkung, kritischem Denken, Diskurs, Dialogfähigkeit und Verantwortung – also genau jenen Kompetenzen, die auch Bildung für Nachhaltige Entwicklung (BNE) fördert. Wo sehen Sie die wichtigsten Schnittstellen zwischen Demokratiebildung und BNE?

Diese gemeinsamen Anforderungen sind kein Zufall. Sowohl die Demokratie wie auch nachhaltige Entwicklung erfordern kollektives Handeln. Bei der nachhaltigen Entwicklung ist das offensichtlich: das gesellschaftlich Wünschenswerte (eben eine nachhaltige Entwicklung) kann nur erreicht werden, wenn alle oder doch zu mindestens die meisten mitmachen und Lösungen mittragen. Dies bedeutet auch, dass in gewissen Situationen die gesellschaftlichen Interessen über die eigenen gestellt werden müssen. Bei der Demokratie ist das sehr ähnlich. Sie lebt davon, dass ihre fundamentalen Werte von der Gesellschaft getragen werden und dass man immer wieder demokratische Entscheide akzeptieren muss, die man selbst nicht gut findet.

Ausserdem und etwas konkreter scheint klar, dass eine erfolgreiche nachhaltige Gesellschaftsentwicklung in einer Demokratie nicht ohne Mitwirkung von und Diskussion mit der Bevölkerung funktioniert.

Welche Inputs haben Sie in unser Themendossier «Demokratie» eingebracht?

Ich habe angeregt, dass die Aspekte der Meinungsbildung und der Digitalisierung der Demokratie prominent diskutiert werden. Erstere ist das zentrale Ziel der politischen Bildung, also dass Schülerinnen und Schüler lernen, wo sie welche Informationen finden und wie sie diese nutzen können, um sich eine informierte Meinung bilden zu können. Die Digitalisierung ist generell eine zentrale Dynamik unserer Zeit und sie betrifft auch die Politik. Deshalb scheint es mir wichtig, die damit einhergehenden Herausforderungen, aber auch die Möglichkeiten, zu kennen.

«Sicher hilft es, Demokratie oder das, was sie ausmacht, möglichst früh und auch im Schulalltag zu üben, auch über Klassenräte und andere Formen der Mitwirkung.»

Als Politologin mit einem Schwerpunkt auf Vergleichende Politik habe ich zudem Inputs gegeben, wie man die Schweizer Demokratie international einordnen kann, v. a. auch, was sie von anderen Demokratien unterscheidet.

Das Themendossier zeigt, wie sich Demokratiekompetenzen altersgerecht auf allen Zyklen umsetzen lassen. Was können Lehrpersonen konkret tun, um demokratische Kompetenzen im Schulalltag zu fördern – selbst wenn der Stoffplan eng ist?

Sicher hilft es, Demokratie oder das, was sie ausmacht, möglichst früh und auch im Schulalltag zu üben, auch über Klassenräte und andere Formen der Mitwirkung. Im Bereich Meinungsbildung lässt sich auch mit «nicht-politischen» Themen üben. Etwa, indem Schülerinnen und Schüler Vor- und Nachteile oder Stärken und Schwächen zu einem Thema erarbeiten und diese abwägen lernen. Je nach Alter kann das Thema oder sein Komplexitätsgrad variiert werden.

Ich bin aber auch überzeugt davon, dass es ohne Wissen nicht geht. Das politische System der Schweiz ist komplex und es zeigt sich sehr klar, dass politisches Wissen für die demokratische Teilhabe eine sehr wichtige Bedeutung hat. Deshalb sollte auch Platz geschaffen werden, um dieses Wissen konkret zu thematisieren – idealerweise anhand aktueller Beispiele. Es ist für Viele interessanter, wenn man etwa das Thema Wahlen oder das Wahlsystem dann thematisiert, wenn man zum Beispiel die Präsidentschaftswahlen in den USA damit verbinden kann.

Und wie und wo können Wissenschaft und Pädagogik zusammenarbeiten, um die Schulen in ihrer Rolle zu unterstützen?

Für uns Wissenschaftler/innen ist es sicher sehr wichtig, dass wir als vertrauenswürdige Quelle von Information gesehen werden. Wenn ich vorher von der zentralen Rolle der Meinungsbildung gesprochen habe, kann die politische Bildung in der Schule hoffentlich dazu beitragen, dass das Vertrauen in die Wissenschaft hoch bleibt.

Gleichzeitig gehört es auch zur Aufgabe der Wissenschaft, relevante Erkenntnisse so aufzubereiten, dass sie für die breite Bevölkerung und möglicherweise auch für Schulen verständlich und nutzbar sind. Wir haben etwa im Rahmen eines Projektes zur Transformation des Energiesystem ein «Serious Game» erarbeitet, dass wir gerne Schulen zur Verfügung stellen, um die Komplexität der Energietransition spielerisch lern- und erfahrbar zu machen.

« Es ist sehr wichtig, gerade jungen Menschen aufzuzeigen, dass die Demokratie ein Prozess ist, in den man nachhaltig investieren muss, wenn man sie lebendig halten will.»

In Ihren Forschungen untersuchen Sie auch politische Teilhabe, Gleichstellung und föderale Strukturen. Welche Herausforderungen sehen Sie aktuell für die Demokratie in der Schweiz – insbesondere im Hinblick auf Partizipation und digitale Beteiligungsformen?

Eine der bedrohlichsten Tendenzen finde ich schon die schon angesprochene Mischung aus Polarisierung und der scheinbaren Bedeutungslosigkeit von «Fakten». Sie gefährdet auch demokratische Grundwerte, v. a. auch das Vertrauen in Politik, welche für das Funktionieren der Demokratie nötig sind. Und sie trägt auch ihres dazu bei, dass die Menschen die Lust verlieren, sich mit Politik und generell mit dem, was in der Schweiz und der Welt passiert, zu beschäftigen. Das bedeutet, dass es sehr wichtig ist, gerade jungen Menschen aufzuzeigen, dass die Demokratie ein Prozess ist, in den man nachhaltig investieren muss, wenn man sie lebendig halten will.

Welche Reformen oder Entwicklungen wären aus Ihrer Sicht notwendig, um Demokratie zukunftsfähig zu machen? Wäre z. B. eine Ausweitung des Stimmrechts auf unter 18-Jährige eine Motivation, sich mit Demokratie auseinanderzusetzen?

Es ist so, dass ein wesentlicher und wachsender Teil der Menschen, die in der Schweiz leben, nicht stimmberechtigt ist. Es gilt deshalb schon zu diskutieren, ob man die Überlappung von denen, die entscheiden können, und jenen, die von den Entscheiden betroffen sind, vergrössern soll und kann. Eine Möglichkeit hierzu ist, das Stimmrechtsalter zu senken, zum Beispiel auf 16 Jahre. Das würde nicht so viel ändern, aber hätte immerhin das Potential, die jüngeren Generationen in der Stimmbevölkerung etwas stärker zu vertreten.

Ein Vorbehalt gegen Stimmrechtalter 16 ist das oft zitierte geringe politische Interessen und Wissen der unter 18-jährigen. Allerdings würde ich sagen, dass dies wesentlich auch der Tatsache geschuldet ist, dass 16-jährige aktuell nicht mitbestimmten dürfen. Beispielsweise sind auch die Lehrpläne darauf ausgerichtet, dass politische Themen v. a. auf der Sek II Stufe gelehrt werden, eben kurz bevor die meisten dann mit 18 das Stimmrecht erhalten. Das müsste man natürlich anpassen, wenn das Stimmrechtalter auf 16 gesenkt würde und diese Inhalte früher in die Schulbildung einbauen. Und ich bin ziemlich überzeugt, dass auch automatisch das Interesse und das Engagement der 16-jährigen für Politik steigen würde, wenn sie zu diesem Zeitpunkt bereit mitwählen und mitabstimmen könnten.

Links

Themendossier «Demokratie – keine Selbstverständlichkeit! »
 

Zur Person

Isabelle Stadelmann-Steffen ist Professorin für Vergleichende Politik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.
Ihre Forschungsinteressen liegen in den Bereichen der öffentlichen Politik, der direkten Demokratie sowie der politischen Verhaltens- und Einstellungsforschung. Sie hat als Expertin am aktualisierten Themendossier Demokratie mitgewirkt.

Was ist ein «Serious Game»?

Ein Serious Game ist ein interaktives Spiel, das über den reinen Unterhaltungswert hinausgeht und einen «ernsthaften» Zweck wie Bildung oder Aufklärung verfolgt. Es kombiniert spielerische Elemente mit pädagogischen oder informativen Zielen, um Wissen spielerisch zu vermitteln oder Kompetenzen in einem sicheren, aber realitätsnahen Umfeld zu trainieren.